Samstag, 24. Januar 2009
 
Auf dem Weg zur Gesamtschule? Eher nicht! PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Elke Renner   
Donnerstag, 13. Dezember 2007

In Österreich gehen die Wogen zur Gesamtschuldebatte hoch, ganz wesentliche Aspekte dazu werden aber in der öffentlichen Diskussion ausgelassen.

Lange Zeit haben die, die an pädagogischen und bildungspolitischen Fragen interessiert sind und einen emanzipatorisch demokratischen Anspruch damit verbinden, auf eine Entwicklung zur Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschule gehofft. Wissenschaftliche Konzepte und Argumente dazu gibt es eine Menge. Gerade deswegen regt sich nun die Skepsis an der zeitgeistigen Betulichkeit. Man hatte sich vormals schon über "Reformen", "Autonomie" und ähnliche Begriffe gefreut und musste erleben, in welcher Weise sie neoliberalen Wortverdrehern dienten, Bildungsabbau, Mangelverwaltung, Standortkonkurrenz, Privatisierung, Abbau von Mitbestimmung usw. durchzusetzen.

 

Was ist jetzt z.B. von Lippenbekenntnissen der Präsidentin des Wiener Stadtschulrates zur Gesamtschule zu halten, wenn sie sich vor geraumer Zeit noch dezidiert gegen diese ausgesprochen hatte. Heute will sie sogar die einzig real existierende Gesamtschule, die Volksschule, in den allgemeinen Konkurrenz- und Leistungswahn einbeziehen, indem sie Leistungszertifikate für Wiener Volksschulen einführt. Einige wenige neue Versuchsschulen für die Zehn- bis Vierzehnjährigen an bestimmten Standorten in Österreich einzurichten, wäre zwar recht nett, ob und wann daraus Konsequenzen für das anachronistische Schulsystem gezogen werden, steht aber in den Sternen.

 

Mittlerweile klaffen die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche gemäß der sozialen Situation ihrer Familien immer weiter auseinander, es gibt mehr Armutsregionen, -bezirke, -viertel, in denen die Armen ziemlich unter sich bleiben. Immer mehr Schulen werden zu Gesamtschulen der Armen, die "guten" Schulen gegenüberstehen. Viele Menschen haben Angst auf der falschen Seite zu leben, zu arbeiten, zu wohnen und ihre Kinder einer unterfinanzierten Ghettoschule auszuliefern.

 

In Österreich sind die Barrieren gegen eine gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen traditionell besonders starr. In der Ersten Republik und im Austrofaschismus wurden Reformpläne von bürgerlicher Seite fanatisch bekämpft, Otto Glöckel musste letztendlich für seine Ideen ins "Anhaltelager" Wöllersdorf. Das ständische bildungspolitische Denken überdauerte bis heute bei einem Gutteil der ÖVP.

 

Aber Modernisierer im Interesse der Wirtschaft plädieren seit Neuestem für eine gemeinsame Mittelstufe der besonderen Art, allen voran Vertreter der Industrieellenvereinigung. Pisa-Studien belegen, wie wenig ein veraltetes Schulsystem für die Ausbildung von "Humankapital" leistet. "Industriechef Sorger für Gesamtschule mit Leistungsgruppen" titelte der Standard (3./4.Nov. 2007), und weiter: "VP: Finanzminister soll bei Schulversuchen mitreden." Im Rahmenpapier der Industriellenvereinigung tritt man dafür ein, dass Lehrer aufgewertet werden "oder wenn sie nicht funktionieren, mit anderen Aufgaben versehen" werden sollten.

 

Damit wäre die Katze aus dem Sack, die Mittelstufe soll effizienter selektieren, die Lehrer müssen in diesem Sinne funktionieren oder als unbrauchbar auf dem Arbeitsmarkt entsorgt werden. Für weiterführende Oberstufenmodelle hätte man damit ordentlich vorselektiert, da könnte man wohl auch Schulgeld fordern.

 

In der Grundrechtscharta der Europäischen Union, und damit wären wir beim Zusammenhang der österreichischen Misere mit der EU, wird sowohl im gescheiterten Verfassungsvertrag als auch im Reformvertrag nur verankert, dass das Recht auf Bildung die Möglichkeit umfasst, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen. Die EU belässt zwar die nationalen Regelungen, drängt aber auf Öffnung des Bildungsmarktes für große Bildungskonzerne, Lobbies und think tanks. In diese Richtung planen die österreichischen Machteliten, auch die der Sozialdemokratie.

 

Wenn die nordischen Staaten bei den Pisa-Rankings im Sinne der OECD gut abschneiden, dann haben sie das noch ihrer Bildungspolitik aus der Zeit der Sozial- und Wohlfahrts- staatlichkeit zu verdanken. Die Europäische Union hat ihnen seitdem nur finanzielle Schwierigkeiten eingebracht.

 

Unsere Aufgabe muss es in der gegebenen Situation sein, jeden schulpolitischen Schritt kritisch danach zu untersuchen, ob er begleitet von anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Maßnahmen in Richtung emanzipatorischer und demokratischer Verbesserungen gesetzt wird.

 

Elke Renner

 (Vorabdruck aus "Guernica")

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